Vorurteile und Stigmatisierung bei Essstörungen wie Magersucht 

Was bedeutet Stigmatisierung?

Unter Stigmatisierung versteht man die Verknüpfung eines bestimmten Merkmals einer Person oder einer Personengruppe mit negativ konnotierten Stereotypen (Vgl. Erving Goffman, 1996). Meist wird eine klare Trennlinie zwischen den „Normalen“ und den Abweichenden gezogen. Von Stigmatisierung sind viele Menschengruppen betroffen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder anderer körperlicher oder psychischer Merkmale nicht in gesellschaftliche „Normvorstellungen“ passen.

Auch Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen machen häufig stigmatisierende Erfahrungen.

So auch bei Essstörungen.

Unterschieden werden nach Goffman

1.     Fremdstigmatisierung

2.     Selbststigmatisierung

3.     Courtesy-Stigmatisierung

Fremdstigmatisierung bedeutet, dass Betroffenen durch andere stigmatisiert werden.

Bei der Selbststigmatisierung werden Stigmata internalisiert und es kommt zu Selbstvorwürfen, einem negativen Selbstbild und einem beeinträchtigten Selbstbewusstsein.

Courtesy-Stigmatisierung bedeutet, dass auch das Umfeld von Betroffenen mit negativen Stereotypen versehen werden.

Die drei Formen treten häufig gemeinsam und in Interaktion auf.

Anorexia Nervosa & Stigmatisierung

 Magersucht gehört mit einer hohen Mortalitätsrate und einer Chronifizierungsrate von 20% zu den schweren psychischen Erkrankungen. Charakteristisch sind ein signifikant zu niedriges Körpergewicht, eine Körperschemastörung und intensive Angst vor Gewichtszunahme, dazu kommen endokrine Störungen wie z.B. Amenorrhoe. Aufgrund der Mangelernährung kann es zu schwersten körperlichen Schädigungen führen, z.B. Osteoporose, strukturellen und funktionellen Hirnveränderungen, kardiovaskulären Komplikationen und Störungen des Immunsystems (Agras et al., 2004).

Trotzdem liegen zwischen Erstauftreten der Symptomatik und Behandlungsbeginn im Durchschnitt vier bis sechs Jahre (De la Rie et al., 2006).

Woran liegt das?

Teilweise liegen Gründe sicherlich darin, dass Gewichtsabnahme und „Disziplin“ häufig zunächst Wertschätzung erfahren und Betroffene zunächst positives Feedback von anderen erhalten. Körperlich sichtbare Gewichtsabnahme führt somit häufig zunächst zu Komplimenten und es erfolgt somit eine initiale Verstärkung des Verhaltens.

Angefeuert wird dies durch Körperideale, die insbesondere in Sozialen Medien, häufig aber auch in der Peergruppe und im sozialen Umfeld idealisiert werden. Diese, häufig unrealistischen Körperbilder, werden oft als „gesund“ und erstrebenswert empfunden, während die dahinterliegenden teilweise vorhandenen Essstörungen und dysfunktionalen Körperschemata maskiert oder beschönigt werden. Hungern wird als so als „normal“ vermittelt. Schaut man auf Aussagen wie „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt“ von Kate Moss, zeigen deutlich, wie ein dysfunktionales Verhalten wie Hungern zunächst erstrebenswert sein kann. 

Eine weitere Ursache könnte die Stigmatisierung der Magersucht sein

Auf der Ebene der Fremdstigmatisierung zeigen sich verbreitete Vorurteile gegenüber Menschen mit Essstörungen. So befragten Crisp et al. (2000) 1790 Personen aus der Allgemeinbevölkerung und fanden heraus, dass 34,5% der Ansicht waren, dass Personen mit Essstörungen selbst schuld an ihrem Zustand seien und 38,1% nahmen an, dass diese sich zusammenreißen könnten, wenn sie es nur wirklich wollten. Stewart et al. (2006) fanden darüber hinaus eine breite Zustimmung zu dem Stereotyp, Menschen mit Essstörungen verhielten sich so, um Aufmerksamkeit zu erhalten.

Diese drei Vorurteile enthalten eine Schuldzuweisung und unterstellen, die Erkrankung im Grunde selbst rational gewählt zu haben. Darüber hinaus werden Essstörungs-Betroffene und deren Behandlung häufig als „schwierig“ bewertet. Becker et al. (2009) machten so auch Stereotypen auf Seiten der BehandlerInnen als eine Barriere für die Inanspruchnahme therapeutischer Hilfsangebote aus. 

Auch wird der Schweregrad häufig unterschätzt und von Außenstehenden eher als eine Art „Lifestyle“ bewertet, als eine Krankheit betrachtet. Dies stellt eine Verklärung der realen Risiken der Anorexie dar und trägt sicherlich ebenfalls dazu bei, dass Betroffene zögern, therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen und können.

Verschwommene Grenzen

Das Kontinuummodel psychischer Störungen versteht psychische Gesundheit nicht als kategoriales, binäres System, sondern als Spektrum. Das neue ICD-11-DiagnoseSystem integriert das Konzept eines 

Kontinuums von psychischer Gesundheit in seine Klassifikationen, indem es nicht nur auf starren Diagnosekategorien basiert, sondern auch den Grad der Beeinträchtigung und die dimensionsbezogene Vielfalt von psychischen Problemen berücksichtigt. 

Das bringt viele Vorteile mit sich und sollte auch zu einer Entstigmatisierung beitragen –

Im Rahmen von Essstörungen und der Anorexie stellen sich aber auch die Fragen:

Ab wann ist das dysfunktionale Essverhalten eine ernstzunehmende Erkrankung und wann ist es der „gesunde Lifestyle“?

Woran erkennen wir, bei uns und anderen, die Gefahr, in eine Essstörung zu rutschen?

Wie können wir uns davor schützen, dass Teile der Kernsymptomatik wie restriktives Essen und selbstherbeigeführte Gewichtsabnahme akzeptiert und idealisiert werden?

Wie gehen wir damit um, dass die Werbeindustrie dysfunktionale Körperideale vermittelt?

Wie können wir uns und andere davor schützen, davon beeinflusst zu werden und zu sein?

Wie können wir gesunde Körperbilder fördern?

Und gleichzeitig: Wie können wir die Angst vor und Ablehnung der offensichtlich untergewichtigen Betroffenen mildern und Schuldzuweisungen vermeiden?

Ich denke, Aufklärung ist ein erster Schritt.

Aufklärung über Ursachen von Essstörungen, die Risiken und auch die therapeutischen Möglichkeiten.

Denn Essstörungen lassen sich behandeln.

Und diese Möglichkeit sollte allen Betroffenen offenstehen.

 

 Literatur:

Agras WS, Brandt HA, Bulik CM, Dolan-Sewell R, Fairburn CG, Halmi KA, Herzog DB, Jimerson DC, Kaplan AS, Kaye WH, le Grange D, Lock J, Mitchell JE, Rudorfer MV, Street LL, Striegel-Moore R, Vitousek KM, Walsh BT, Wilfley DE. Report of the National Institutes of Health workshop on overcoming barriers to treatment research in anorexia nervosa. Int J Eat Disord. 2004 May;35(4):509-21. doi: 10.1002/eat.10261. PMID: 15101067.

Becker DF, Grilo CM. Childhood maltreatment in women with binge-eating disorder: associations with psychiatric comorbidity, psychological functioning, and eating pathology. Eat Weight Disord. 2011 Jun;16(2):e113-20. doi: 10.1007/BF03325316. PMID: 21989095; PMCID: PMC3644112.

Crisp AH, Gelder MG, Rix S, Meltzer HI, Rowlands OJ. Stigmatisation of people with mental illnesses. Br J Psychiatry. 2000 Jul;177:4-7. doi: 10.1192/bjp.177.1.4. PMID: 10945080.

de la Rie S, Noordenbos G, Donker M, van Furth E. Evaluating the treatment of eating disorders from the patient's perspective. Int J Eat Disord. 2006 Dec;39(8):667-76. doi: 10.1002/eat.20317. PMID: 16868992. 

Stewart MC, Keel PK, Schiavo RS. Stigmatization of anorexia nervosa. Int J Eat Disord. 2006 May;39(4):320-5. doi: 10.1002/eat.20262. PMID: 16523470. 

Weiter
Weiter

Energiebedarf als Frau